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Kenya: German "Opa" und seine "Jungs"

05.08.2023 | Heiner Hoffmann und Birte Mensing


Mutmaßlicher Missbrauch durch Entwicklungshelfer Der »Opa« und »seine Jungs« in Kenia

Ein Deutscher soll in Kenia jahrelang Minderjährige sexuell missbraucht haben. Er betrieb ein Entwicklungshilfeprojekt, das die katholische Kirche förderte. Warnungen vor dem Mann blieben lange folgenlos.

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Der Beschuldigte Harald D. nach einem Gerichtstermin in Nakuru

Foto: James Wakibia / ZUMA Wire / IMAGO

Globale Gesellschaft

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In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

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Das Tor zur Farm ist verschlossen, zwei Deutsche Schäferhunde bellen bedrohlich, wenn man sich nähert. Auf dem Feld sollte gerade der Weizen stehen, erzählt eine Mitarbeiterin im Vertrauen, doch es liegt brach. Mehrere Traktoren und ein Lkw rosten vor sich hin. Der Besitzer, der 62-jährige Deutsche Harald D.*, kann sich nicht mehr um sein Land kümmern. Er sitzt im Gefängnis, wartet auf seinen Prozess. Denn hinter dem silbernen Wellblechtor sollen furchtbare Verbrechen geschehen sein.

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Bahati, das Glück, so nennen die Einwohnerinnen und Einwohner diese Gegend im Westen Kenias, nahe der Stadt Nakuru; Touristen gehen hier in der Gegend auf Safari. Mindestens zehn Kinder, Jugendliche und junge Männer hatten gehofft, auch endlich ihr Glück zu finden. Es hatte plötzlich gut ausgesehen für sie, da war dieser weiße Mann aus Deutschland gekommen und hatte ihnen eine bessere Zukunft versprochen. Er übernahm ihre Schulgebühren, er besorgte ihnen Handys, er verpflegte sie, am Ende gab es sogar noch Geld für die Arbeit auf seiner Farm. So steht es in den Akten der Ermittler, so erzählen es Angehörige, mit denen DER SPIEGEL und der Südwestrundfunk (SWR) in einer gemeinsamen Recherche gesprochen haben.

D.s »Schützlinge« waren männlich und ab zwölf Jahre alt. D. nannte sie »die Jungs«, sie nannten ihn »Opa«. In der Anklageschrift gegen D. kann man lesen: Er soll die »Jungs« über Jahre missbraucht und sexuell ausgebeutet haben.

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Die Farm von Harald D. – vieles wirkt improvisiert, teils verfallen

Foto: Dennis Mavingo

Wenn die Vorwürfe stimmen, dann wäre es die Geschichte eines katastrophalen Versagens, eines Wegschauens, in Kenia und in Deutschland. Es wäre eine Geschichte von Abhängigkeiten, von einem angeblichen weißen Retter, wie es sie in Afrika so viele gibt – oder vielmehr: zu geben scheint. Von Klischees und Rollenbildern, die mutmaßlich grausame Taten begünstigt haben könnten. Und von Opfern, in Heilbronn und Bahati, die es dann so nicht hätte geben müssen.

In Bahati, dem Ort des Glücks, reden die Bewohnerinnen und Bewohner nicht gerne über die Vorwürfe. Sexuelle Gewalt ist in Kenia nach wie vor ein Tabuthema, Opfer werden zeitlebens stigmatisiert, vor allem wenn es sich um junge Männer handelt. Eine Mitarbeiterin der Farm verteidigt D., sie könne sich all das wirklich nicht vorstellen.

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Graces Sohn und Enkel sollen auf Harald D.s Farm sexuell ausgebeutet worden sein, nun will sie Gerechtigkeit

Foto: Dennis Mavingo

Grace hat keine andere Wahl, sie muss es sich vorstellen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, seitdem D. verhaftet wurde. Ihr Sohn und ihr Enkelsohn sind inzwischen im Zeugenschutzprogramm, als mutmaßliche Opfer des Deutschen. Grace, ihren vollen Namen will sie lieber nicht verraten, steht vor riesigen Gewächshäusern, trägt Gummistiefel und die lilafarbene Schürze ihres Arbeitgebers. Die 50-Jährige arbeitet als Erntehelferin, wie so viele in der Region, das Einkommen reicht kaum zum Überleben.

Dann beschreibt Grace, wie froh sie war, dass der »Mzungu«, der Weiße, sich um ihren Sohn kümmern wollte. Im Dezember vergangenen Jahres habe das begonnen, zunächst sei der Junge jeden Samstag und Sonntag auf der Farm gewesen, ab Januar habe er komplett bei D. gewohnt. Zwei Wochen später habe er noch Graces Enkelsohn dazugeholt. Der Mzungu habe versprochen, ihnen fortan die Schulgebühren zu zahlen, bis hin zur Uni. Die Kinder zeigten Grace stolz ihre neuen Schuluniformen und Ranzen, alles bezahlt von D.

»Ich dankte Gott für diese Gelegenheit, sie sollte uns aus den Fesseln der Armut erlösen«, erzählt Grace. Zweifel habe sie zunächst keine gehabt, schließlich sei D. ein älterer weißer Mann. Genau das ist Teil des Problems: Männer aus Europa gelten in vielen ärmeren Gegenden Afrikas als edle Retter, hinterfragt werden ihre Motive selten. Immer wieder entpuppen sich vermeintliche Entwicklungshelfer als Sexualstraftäter: Ein Priester aus Trier soll über Jahre pornografische Fotos  

von Minderjährigen in afrikanischen Ländern angefertigt, ein »Doppelleben« geführt haben. Der Fall wird derzeit aufgearbeitet. Auch in Uganda soll ein Deutscher mutmaßlich über Jahre  Minderjährige in einem von ihm betriebenen Kinderheim missbraucht haben. Die Liste ließe sich fortsetzen.

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»Diese Täter haben oft viel Macht, und sie werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Unsere rechtlichen Standards werden ihnen gegenüber nicht durchgesetzt«, sagt die kenianische Kinderrechtsexpertin Sophie Otiende, die selbst Aufnahmezentren für minderjährige Opfer von Menschenhandel betrieben hat.

Mitte Februar ruft die Polizei bei Graces Arbeitgeber an und ordert sie nach Hause. Ihr Sohn und ihr Enkel seien jetzt in einem Zeugenschutzprogramm, die Beamten erzählen etwas von »sexueller Ausbeutung«. Grace versteht die Welt nicht mehr. Inzwischen weiß sie: Mehrere »Jungs« hatten sich offenbar zusammengetan, Taten gemeldet. »D. hat das Leben der Kinder ruiniert, sie sind für immer traumatisiert, sie haben ihr Selbstbewusstsein verloren«, sagt Grace. Sie will nun wenigstens Gerechtigkeit.

Harald D., der mutmaßliche Täter, ist ein Mann Gottes, so scheint es zumindest. In den 1980er-Jahren wird er ehrenamtlicher Oberministrant in der Gemeinde Heilbronn-Sontheim in Baden-Württemberg. Er, damals Anfang 20, organisiert Ausflüge und Treffen für Jugendliche und Ministranten. Auch Thomas Friedmann, dessen echten Namen wir zu seinem Schutz nicht schreiben sollen, ist dabei. Es sei der Beginn einer langen Leidensgeschichte gewesen, erzählt er heute: »Das fing so mit 12, 13 ungefähr an, bis ich 15 war etwa. Da war das Anfassen in meinem Genitalbereich. Umgekehrt wollte er auch angefasst werden, befriedigt werden. Er hat mir damit Gewalt angetan.« Friedmann leide bis heute unter den Folgen des Missbrauchs, sagt er. Er habe lange Probleme gehabt Beziehungen zu führen, habe zwischenzeitlich gar gefürchtet, selbst irgendwann zum Täter zu werden.

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Es kommt immer wieder vor, dass Kinder in vermeintlichen Entwicklungsprojekten zu Opfern europäischer Sexualstraftäter werden (Symbolbild)

Foto: Jake Warga / Corbis Documentary RF / Getty Images

Über Jahrzehnte versucht Friedmann die Taten von damals zu vergessen, oder zumindest zu verdrängen. Es gelingt ihm nicht. Dann fallen ihm plötzlich diese Rundbriefe aus Kenia in die Hände: Harald D., der Täter, berichtet von seinem »Projekt« in Bahati, davon, wie er Kindern und Jugendlichen helfe. Bei Friedmann gehen alle Alarmglocken an, er denkt sich: »Das ist ja wie ein Alkoholiker, der im Schnapsladen arbeitet.« Er sammelt die Schreiben, er markiert die Stellen, in denen von »Jungs« und »Kids« die Rede ist. Friedmann glaubt, dass der Täter D. gezielt nach Afrika ging: »Harald hat sich ein neues Umfeld gesucht, in dem er mehr Sicherheit hat.« Und dieses Umfeld lasse er sich auch noch von gutgläubigen Christen in Deutschland finanzieren.

Denn die Kirche hilft Harald D. gerne. Vor allem in Gemeinden der Diözese Rottenburg-Stuttgart, D.s alter Heimat, wird fleißig gesammelt. Auf einer Webseite der Diözese hieß es 2016 wörtlich: »D. bleibt vor Ort und lebt unmittelbar mit ›seinen‹ kenianischen Jungs, bzw. deren Familien!« Es war wohl als Lob gemeint. Die Sternsinger des katholischen Kindermissionswerks singen regelmäßig für D., bis Ende 2016 kommen stolze 280.000 Euro zusammen. Ebenso umtriebig zeigt sich ein Förderverein namens Karunga, den Unterstützer gegründet haben, allen voran ein ehemaliger Mitarbeiter des Dekanats Heilbronn-Neckarsulm, das zur Diözese Rottenburg-Stuttgart gehört. D. kann sich also auf ein Netzwerk aus katholischen Förderern verlassen.

Friedmann, das Opfer aus den 1980er-Jahren, will nicht mehr tatenlos zusehen. Er geht 2012 zur Polizei, zur Staatsanwaltschaft, erstattet Anzeige gegen D. Er weiß, dass sein eigener Missbrauch verjährt ist, doch er will wenigstens den potenziellen Opfern in Kenia helfen. Das habe er den zuständigen Stellen auch mehrfach erklärt, versichert er. Doch der Fall landet schnell bei den Akten, wird eingestellt.

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Im Bezirk Bahati herrscht große Armut, viele Kinder verlassen nach der achten Klasse die Schule, arbeiten auf den umliegenden Feldern

Foto: Dennis Mavingo

Anfang 2016 fasst sich Thomas Friedmann wieder ein Herz: Er informiert die Diözese Rottenburg-Stuttgart über die Verbrechen von Harald D. Nun geht alles schneller, als er gedacht hat: Sein Fall wird binnen Wochen anerkannt, er erhält sogar eine Entschädigung, 5.000 Euro, und eine Entschuldigung. Spätestens jetzt sollte den katholischen Gemeinden und Funktionsträgern klar sein: In die Nähe von Minderjährigen gehört Harald D., der vermeintliche Wohltäter in Kenia, nicht.

Es scheint sich tatsächlich etwas zu bewegen: Im Januar 2017 sammelt die Kirchengemeinde in Heilbronn-Sontheim erstmals nicht mehr für D. und seine Projektfarm. Das habe der Gemeinderat so entschieden, heißt es damals in einem Artikel der Heilbronner Stimme. Doch von sexuellem Missbrauch, den Zweifeln über D.s Vergangenheit, ist keine Rede. Vielmehr wird »Intransparenz bei der Verwendung der Spendengelder« als Grund genannt.

Vielleicht liegt es auch an dieser Verstecktaktik, dass andere Kirchgemeinden in der Diözese D. in den kommenden Monaten weiterhin die Treue halten. Noch 2018, mehr als ein Jahr nach der Anerkennung seiner Missbrauchstaten, wird für D. gesammelt – das räumt die Diözese selbst ein. Auf Anfrage weist ein Sprecher der Diözese die Verantwortung von sich. Die einzelnen Kirchgemeinden würden »als rechtlich eigenständige Körperschaften selbst entscheiden, für wen sie sammeln«. Ein Rundschreiben, eine flächendeckende Warnung vor einer Unterstützung des Projekts gab es offenbar nie.

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Blick auf die Stadt Nakuru

Foto: Dennis Mavingo

Thomas Friedmann lässt der Gedanke an die Opfer in Kenia auch in den Monaten darauf nicht los. Er informiert nun auch das Kindermissionswerk, die katholische Einrichtung koordiniert die Sternsinger. Tatsächlich werden daraufhin zwei Anwältinnen in Kenia damit beauftragt, ein Gutachten zu erstellen, sie besuchen D.s Farm bei Nakuru. Ende 2018 liegt ein Ergebnis vor, es ist alarmierend. Zwar kann zu diesem Zeitpunkt noch kein konkreter Missbrauchsfall festgestellt werden, aber die Anwältinnen beschreiben ungeklärte Todesfälle unter den Jugendlichen, beklagen fehlende Bildungserfolge der vermeintlichen Schützlinge.

Die Gutachterinnen reden auch lange mit D. selbst, es müssen erstaunlich offene Gespräche gewesen sein. D. spricht, so steht es im Gutachten, über seine Bisexualität, er gesteht sogar ein, »dass die Vorwürfe des damals minderjährigen Jungen in Deutschland stimmen«. D. wird zitiert, er sei davon ausgegangen, dass die Handlungen einvernehmlich gewesen seien und habe erst später begriffen, dass etwas nicht stimmte – als das Opfer weinend in einer Ecke saß. Doch damit nicht genug: D. gibt auch zu, sich einem jungen Mann auf seiner Farm angenähert zu haben, doch der habe eine Beziehung schließlich abgelehnt. Das Fazit der Anwältinnen: Es gebe keinerlei Schutzmaßnahmen für Minderjährige vor Ort, keine Aufsicht, nichts. Rechtliche Vorgaben würden umfänglich verletzt.

Dieses Gutachten übermittelt das Missionswerk dem Bundeskriminalamt sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisse auch dem deutschen Verein Karunga, der sich zu dieser Zeit stark für D. engagiert, Gelder einwirbt. Doch dort passiert am Ende: nichts. Der Vereinsvorsitzende Peter Seitz hält bis 2021 an D. fest. In einer Mail an den SWR nennt er die mutmaßlichen Missbrauchsfälle in Kenia »einschlägige Vorkommnisse«, die durch einen Rückzug seines Vereins aus dem Projekt »nicht vermieden worden« wären.

Protokoll des Wegschauens und Ignorierens

Dem SPIEGEL und Südwestrundfunk liegen Mailwechsel zwischen Vereinsvertretern und Ereignisprotokolle von Mitgliedern vor. Es sind Zeugnisse des Wegschauens und Ignorierens seitens der Vereinsverantwortlichen. Mehrfach weisen demnach Mitglieder auf die untragbare Situation hin, es kommt sogar zu Austritten. Doch Konsequenzen zieht der Vereinsvorsitzende nicht. In einer Stellungnahme gegenüber dem SWR schreibt Peter Seitz, Missbrauchsvorwürfe seien schließlich »bei verschiedentlichen Nachfragen verneint« worden. Ob die Jugendlichen oder der mutmaßliche Täter selbst befragt wurden, lässt er offen.

Fest steht: Noch bis 2021 konnte sich D. auf Unterstützung aus Deutschland verlassen. Er baute seine Farm aus, bezahlte von den Spendengeldern unter anderem Schulgebühren für die mutmaßlichen Opfer.

Aus Ermittlerkreisen erfährt DER SPIEGEL erschreckende Details: D. sei mit einigen Opfern auch ans Meer gefahren, habe sie dort missbraucht. Es könnten sogar weitere Täter im Spiel sein. D. habe sich immer wieder von den Minderjährigen massieren lassen, so den Missbrauch eingeleitet. Es soll ein Video geben. Nachdem er aufgeflogen war, habe D. versucht Zeugen und Verfahrensbeteiligte zu beeinflussen, um einen Prozess abzuwenden.

»Man hätte wohl viele dieser Taten verhindern können«

Auf einen Fragenkatalog von SPIEGEL und SWR reagiert D.s Anwalt nicht, ein Interview lehnt er ab. Vor Gericht hat Harald D. seine Unschuld beteuert.

Auch in Kenia wird der Fall jetzt aufgearbeitet, denn nicht nur in Deutschland schauten die Verantwortlichen lange weg. Das Gutachten der Anwältinnen blieb in Schubladen kenianischer Behörden liegen, Warnungen wurden nicht ernst genommen. Bernard Kipkoech vertritt im Verfahren die Opfer, er sieht ein System dahinter: »Harald D. hat viel Einfluss in dieser Gegend, er hat sich als Retter präsentiert. Wir müssen alles tun, um solche Fälle in Zukunft zu verhindern.«

Thomas Friedmann ist entsetzt, dass seine schlimmsten Befürchtungen mutmaßlich wahr geworden sind. Zehn Jahre lang habe er versucht, die Kinder und Jugendlichen aus D.s Hof rauszuholen, vergebens. Wenn er in den Rundbriefen von den »Jungs« in Kenia las, musste er an seinen eigenen Missbrauch denken. »Man hätte wohl viele dieser mutmaßlichen Taten verhindern können«, sagt er heute. Nun hofft er, dass D. endgültig hinter Gitter kommt.

*Name von der Redaktion geändert, da noch kein rechtskräftiges Urteil gesprochen wurde

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

 

Tunesien deportiert Mi­gran­t:in­nen: In die Wüste verschleppt

Tunesien setzt Mi­gran­t:in­nen im Grenzgebiet zu Libyen aus. Menschen in der Region machen entsetzliche Funde, wie neue Videos und Fotos zeigen.

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Diese Männer gaben an, ohne Wasser ausgesetzt worden zu sein. Hinten ein libyscher Grenzschützer Foto: Mahmud Turkia/afp

SFAX, BEN GUERDANE UND ZUWARA taz | Mohammed Rizq ist Kommandeur einer Gruppe libyscher Soldaten, er patrouilliert regelmäßig an einem kleinen Abschnitt der Grenze zu Tunesien. In diesem Sommer ist die Hitze im Grenzgebiet gnadenlos, knapp unter 50 Grad zeigt das Thermometer. In einem Video, das Rizqs Kollegen kürzlich von ihm aufnahmen, macht der 33-Jährige lautstark seinem Ärger Luft: nicht über die Arbeitsbedingungen unter der sengenden Sonne, sondern über das, was er tagtäglich erlebt.

Immer am Nachmittag entdeckt Rizq in weiter Ferne eine Gruppe Menschen, erst nur kleine Punkte am Horizont. Viele Stunden dauert es, bis man sie in der vor Hitze flimmernden Wüstenlandschaft besser erkennen kann. Wie in Zeitlupe schleppen sie sich zur Grenze.

Manchmal folgen den Vertriebenen in großem Abstand Jeeps der tunesischen Nationalgarde, um sie von der Rückkehr in die tunesischen Küstenstädte Sfax oder Zarzis abzuhalten. Wasser, so sagt es ein libyscher Grenzbeamter der taz, bekommen sie nicht.

„Schande für Tunesien und Europa“

In einem anderen Video stehen plötzlich drei ausgemergelte Gestalten vor Rizq. Sie berichten den libyschen Beamten, in Sfax gelebt und gearbeitet zu haben. Vor drei Wochen seien sie von einem Mob mit Gewalt aus ihren Wohnungen auf die Straße getrieben worden. Dann habe man sie mit Hunderten weiteren Menschen in einen Bus getrieben und an der 400 Kilometer entfernten Grenze zu Libyen rausgeworfen.

„Kommt niemals zurück“, habe ein tunesischer Uniformierter ihnen hinterhergerufen, erzählt ein erschöpfter Mann aus der Elfenbeinküste in dem ersten Video. Auf dem Arm hält er ein Baby, mit einem Tuch notdürftig vor der Sonne geschützt. Mehrmals pro Woche begegnen den libyschen Grenzwächtern völlig entkräftete Migrant:innen. Sie bringen sie in ein provisorisches Lager in der libyschen Stadt Zuwara.

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Rizq hält die Koordinaten seines GPS-Empfängers in die Kamera und wendet sich direkt an die Verantwortlichen in Tunis und Brüssel. „Wir finden fast täglich verdurstete Migranten. Sie wurden ohne Wasser in den Tod geschickt. Das ist eine Schande für Tunesien und Europa.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Mi­gran­t:in­nen mit Gewalt aus Tunesien vertrieben werden. Präsident Kais Saied hatte im Februar die aus Libyen nach Tunesien Geflohenen oder ohne Visum aus Westafrika nach Tunesien Eingereisten der Verschwörung gegen die arabische und islamische Kultur des Landes bezichtigt. Die illegale Migration müsse beendet werden, sagte Saied damals. Viele der Menschen hielten sich seitdem in Sfax auf, das bis vor kurzem als Zufluchtsort galt.

Die aktuellen Deportationen aus der tunesischen Hafenstadt hatten Anfang des Monats begonnen und hängen offenbar auch mit dem Tod eines Tunesiers zusammen, der bei einer Auseinandersetzung mit drei Kamerunern Anfang Juli ums Leben kam. Ohne Absprache mit den algerischen und libyschen Behörden setzt Tunesien die Menschen seitdem in Grenzgebieten aus und überlässt sie dort sich selbst.

Von Mobs vertrieben

An der libyschen Grenze bei Ras Jadir trafen die libyschen Grenzbeamten Anfang Juli plötzlich auf Hunderte Menschen, die an einem Strandabschnitt ohne Wasser oder medizinische Hilfe ausharrten. Einige von ihnen waren von den Mobs in Sfax nicht nur vertrieben, sondern auch verwundet worden.

Mindestens zwanzig Leichen sollen die libyschen Patrouillen in dem Grenzgebiet bereits gefunden haben. Auch Bewohner der Wüstenoase Tataouine entdeckten offenbar mehrere Menschen, die an Erschöpfung gestorben waren. Ein von einem libyschen Offizier aufgenommenes Foto von Fati Dosso aus der Elfenbeinküste, die zusammen mit ihrer sechsjährigen Tochter Marie verdurstete, führte in Libyen zu einer Welle der Empörung. Arm in Arm lagen Mutter und Tochter im Sand.

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In Libyen fragen sich nun viele, warum die tunesischen Behörden direkt vor dem Abschluss eines Migrationsabkommens mit der EU Mi­gran­t:in­nen nach Libyen abschieben will. Am 17. Juli hatte Tunesien mit Brüssel vereinbart, die in diesem Jahr drastisch gestiegene Zahl der Abfahrten von Schlepperbooten zu reduzieren, und erhofft sich dafür Zahlungen von über einer Milliarde Euro.

„Wir haben selbst 700.000 Migranten in Libyen“, sagt ein Beamter der Behörde gegen illegale Migration in der Hafenstadt Zuwara der taz. „Stellen Sie sich vor, wir würden Tunesiens Beispiel folgen und anfangen, tausende Migranten an der Grenze auszusetzen. Es wäre ein Desaster für Libyens Nachbarländer. Diese unmenschlichen Deportationen müssen sofort enden.“

Nach Berichterstattung des Fernsehsenders Al Jazeera über die Deportationen lenkte Tunesien zunächst ein und evakuierte die Ausgesetzten wieder aus dem Grenzgebiet. Die weltweite Kritik am Vorgehen der tunesischen Behörden hat die Regierung wohl aufschrecken lassen. Wichtige Kredite schienen in Gefahr.

Ein Sprecher der Organisation Roter Halbmond behauptete, man habe alle Mi­gran­t:in­nen gerettet. Die Videos der libyschen Grenzbeamten deuten allerdings auf einen Strategiewechsel Saieds hin: Die Menschen werden nun in unauffälligeren kleineren Gruppen durch die Wüste nach Libyen geschickt. Berichte über die gefundenen Toten bezeichnete der tunesische Präsident auf einer Konferenz in Rom am vergangenen Sonntag als Propaganda.

Auf dem von der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni einberufenen Treffen hatten rund zwanzig teilnehmende Staaten am Sonntag bekräftigt, beim Thema Migration künftig enger zusammenarbeiten zu wollen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bemerkte bei der Gelegenheit, dass das eine Woche zuvor mit Tunesien unterzeichnete Abkommen als Vorbild für die Kooperation der EU mit den Ländern der Region dienen solle.

Brüssel will trotz der Deportationen aus Sfax über eine Milliarde Euro an die tunesische Regierung überweisen und bei der Beendigung der Wirtschaftskrise helfen. Tunesien verpflichtet sich im Gegenzug, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen und stärker gegen Schleppernetzwerke vorzugehen.

„Wir müssen ihr zynisches Geschäftsmodell zerstören“, sagte von der Leyen in Rom und versprach, mit neuen Ansätzen die steigende Migration über das Mittelmeer zu reduzieren: „Die Eröffnung neuer legaler Routen zwischen den Kontinenten kann eine sichere Alternative zu den gefährlichen Seereisen sein.“

Gewerkschaft UGGT auf brutalem Kurs

Das einzige sichtbare Resultat des Abkommens der EU mit Tunesien sei, „dass wir Migranten nun ständig auf der Flucht sind“, klagt ein Mann in Sfax gegenüber der taz. „Die Wege nach Süden gen Libyen und nach Norden gen Tunis sind für uns versperrt, also bleibt nur der Weg mit dem Boot nach Europa.“

In Tunesien schließen sich offenbar nun auch die Gewerkschaften dem brutalen Kurs gegen Mi­gran­t:in­nen an. Bei einer Fahrt durch Vororte der Grenzstadt Ben Guerdane stieß die taz auf mehrere Gruppen von Migrant:innen, die nachts aus der Grenzregion geflohen waren. Die dort vom Roten Halbmond eingerichteten Notquartiere sollen nach Protesten der Bevölkerung und der Gewerkschaft UGGT wieder geschlossen werden.

Trotzdem kommen aktuell wieder mehr Menschen in Sfax an. In tagelangen Fußmärschen bringen sie sich vor der Willkür libyscher Milizen in Sicherheit. „Überall trifft man auf verzweifelte Menschen“, berichtet ein Mann in Ben Guerdane der taz. Weil sich die Lage in Sfax seit Anfang Juli etwas beruhigt hat, scheinen auch wieder mehr Boote in Richtung der italienischen Insel Lampedusa abzulegen.

Omnia aus Khartum bestätigt das. Die 25-jährige Sudanesin arbeitet auf dem Kleidungsmarkt am Bab-Jebli-Platz, auf dem sich allabendlich Hunderte obdachlose Mi­gran­t:in­nen aufhalten, um auf den Bürgersteigen und Rasenflächen des Kreisverkehrs zu übernachten. Tu­ne­sie­r:in­nen dürfen seit Februar, dem Beginn der Kampagne Kais Saieds gegen illegale Migration, Menschen ohne offizielle Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis weder beschäftigen noch unterbringen.

Seitdem die Deportationen aus Angst vor negativer Medienberichterstattung nur noch im kleineren Maßstab stattfinden, hat sich das Verhältnis der Be­woh­ne­r:in­nen von Sfax und den Mi­gran­t:in­nen wieder etwas normalisiert. Eine Bürgerinitiative verteilt Wasser an die Obdachlosen, heimlich vermieten Woh­nungs­be­sit­ze­r:in­nen auch wieder an die mehreren Tausend Mi­gran­t:in­nen in der Stadt.

„Dafür sind die Schlepper nun brutaler“, sagt Ali aus Khartum. „Einer von ihnen hat uns in einem Garten vor der Polizei versteckt. Für den schattigen Platz unter einem Baum mussten wir fünf Dinar am Tag zahlen.“

 

 

 

 

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